Kapitel 7: Thurisaz
Camy wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ihr
war sehr wohl
bewußt, dass sie eigentlich noch einmal mit einem blauen
Auge davon
gekommen war. Dennoch musste sie nun ihre Heimat
verlassen. Aber sie durfte
wiederkommen und dieser Gedanke war ihr ein kleiner
Trost. Vielleicht würde
ja ihr Vater durch ihre Abwesenheit wieder zur Besinnung
kommen… entweder
das oder noch tiefer im Dreck versinken, denn sie glaubte
nicht, dass sich ihr
Bruder um den alten Säufer kümmern würde. Aber wie sagte
ein altes
Zwergensprichwort: Wenn die Glut auch noch so schwach
glimmt, kann man
sie trotzdem noch zu einem richtigen Feuer anfachen. Und
die Zwergin hoffte,
dass die Glut ihres Vaters noch nicht ganz erloschen war.
Sie lief rasch durch die Gassen, die Bewohner hatten sich
vom Marktplatz
zurück gezogen und gingen nun ihren alltäglichen
Verrichtungen nach. Sie
hatten erfahren, welche Strafe sie bekommen hatte und
ihre Neugier wurde zu
genüge gestillt. Vermutlich waren sie sogar froh, sie los
zu werden.
Zu Hause angekommen schaute sie nach, ob ihr Vater dort
auf sie wartete. Doch
er war nicht da. Also ging sie nach oben und zog ihre
gute Kleidung aus um sich
reisefertig zu machen. Dann faltete sie sie ordentlich
und packte sie vorsichtig in
den großen Rucksack. Sicher, sie mußte zum Arbeiten
fortgehen, aber dass hieß
noch lange nicht, dass sie wie eine Bettlerin rumlaufen
musste.
Dann ging sie in die Küche und packte den Proviant ein.
Gerade als sie in die
Wohnstube hinüber laufen wollte um die Pfeife und den
Tabakbeutel vom
Kaminsims zum nehmen, klopfte es zaghaft an der Haustür.
„Hey, die 2 Stunden
sind aber noch nicht um, Wulfgast!“ rief sie laut und
riss die Tür auf.
„Wulfgast hätte nicht angeklopft. Er wäre einfach so ohne
um Einlass zu bitten
in dein Haus gestürmt.“ Vor Camy stand eine Zwergin, die
die Kapuze ihres
Umhanges tief ins Gesicht gezogen hatte. Es war offensichtlich,
dass sie nicht
erkannt werden wollte.
„Und wer seid Ihr?“ fragte Camy die Fremde. „Und was
wollt Ihr von mir?“
„Ich bin Ehrhild, Torgasts Frau. Ach bitte, willst du
mich nicht hineinlassen.?
Was ich dir zu sagen habe ist nicht für fremde Ohren gedacht.
Und was ich dir
geben möchte, muss auch nicht jeder sehen.“
Camy war ein wenig misstrauisch, denn eigentlich hatte
sie nie viel mit Torgast
Sippe zu schaffen gehabt. Trotzdem ließ sie die andere
Zwergin hinein.
„Möchtet Ihr einen Kaffa? Ich kann noch schnell einen
frischen aufbrühen, ehe
ich los muss.“ Ehrhild lehnte dankend ab. Also geleitete
Camy die Gattin des
Oberhauptes ins Wohnzimmer und bot ihr den bequemen
Sessel an.
Unruhig trat Camy von einem Bein auf das andere. Diese
Zwergin machte sie
irgendwie nervös, auch wenn Ehrhild sie freundlich und
fast schon mütterlich
ansah. „Ich kann mir denken, dass dich mein Besuch
überrascht. Jedenfalls lässt
mich das dein Gesichtsausdruck vermuten.“ Camy nickte.
„Ich fasse mich kurz,
du wirst dich auch noch für die Reise vorbereiten müssen.
Ich komme, um dir
dies zu geben.“
Sie drückte Camy einen Beutel mit Münzen und einen
glatten Stein an einem
ledernen Band in die Hand. Vor Staunen fiel der Schmiedin
die Kinnlade
herunter. „Was?!Aber?! Wieso?!“ stotterte sie. „Mein
Kind, es gibt Zwerginnen
die von deiner Situation wissen und es nicht gutheißen,
wie man hier mit dir
umgeht. Deshalb haben sie ihre Herzen und Geldbeute
geöffnet und möchten
dich mit diesen Münzen ein bisschen unterstützen. Du hast
eine lange Fahrt vor
dir und dieser Beutel wird sich schneller leeren als dir
lieb sein wird. Du wirst
dich nach Arbeit umsehen müssen, dennoch wird es dir für
den Anfang erst
einmal genügen.“ erklärte sie. „Bitte, nimm es! Es ist
keine Schande Hilfe
anzunehmen.“ fuhr sie eindringlicher fort, als Camy
protestierend den Mund
öffnete. „Ich kann es aber nicht annehmen, denn ich kann
es Euch niemals
zurück zahlen.“ antwortete die Schmiedin stur und hielt
Ehrhild den Beutel hin.
Die Zwergin hob abwehrend die Hände. „Nimm es. Es ist von
niemandem
gegeben worden, der es sich nicht leisten könnte. Die
Zwerginnen geben es dir
gern. Und wenn du unbedingt diese ‚Schuld‘ begleichen möchtest, dann kehre
gesund und erfolgreich von deiner Reise wieder. Das ist
uns Dank und Lohn
genug.“ Camy schluckte angestrengt, aber der Klos in
ihrem Hals wollte nicht
verschwinden. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
krächzte Camy heiser. „ Ein
einfaches Dankeschön scheint mir zu wenig.“ „Ein
Dankeschön ist mehr als
manch andere über die Lippen bringen. Und mir genügt es,
gerade weil ich weiß
wie schwer es dir fällt diese Gabe anzunehmen. Und ich
spüre, dass dein Dank
von Herzen kommt und du ihn ehrlich meinst.“
Camy hängte sich den Beutel an den Gürtel und besah sich
dann den Stein
genauer. Es war ein Anhänger aus Granit, auf dem eine
Rune eingraviert wurde.
Fragend sah Camy auf, es war eine alte Rune und sie war
ihr unbekannt.
„Das ist Thurisaz, eine uralte Rune.“ erklärte ihr
Ehrhild, die den fragenden
Blick Camys aufgefangen hatte. „Sie steht für Stärke, für
gute Neuigkeiten und
für ‚Das Tor‘. Weißt du, ein Tor bedeutet, Altes und die
Vergangenheit hinter
sich lassen und sich auf Neues und die Zukunft einlassen.
Dieser Anhänger soll
dir Glück bringen und dir die Stärke geben, diese Aufgabe
zu bewältigen.“Camy
nickte und bedankte sich nochmals. Doch wieder wehrte
Ehrhild ab. „Ich muss
nun gehen. Zu Hause wartet sicher schon ein hungriger
Torgast auf sein
Mittagessen. Hungrig ist er sprichwörtlich einfach
ungenießbar…Und du musst bald aufbrechen.“
Camy begleitete die Zwergin zur Tür, diese zog sich die
Kapuze tief ins Gesicht.
Als sie sich verabschiedete, umarmte sie die Schmiedin
fest und wünschte ihr
alles Gute. Der Schmiedin traten Tränen in die Augen,
denn solch eine herzliche
Umarmung hatte sie schon lange vermisst.
„Und zu guter Letzt noch eines: Wulfgast ist ein grober,
unbehauener
Felsbrocken, aber eigentlich ist er ein feiner Kerl. Man
gewinnt seine
Freundschaft nicht so leicht, aber wenn doch, dann ist er
der treueste Freund den
man sich nur wünschen kann. Er wird grummeln und maulen,
aber er wird gut
auf dich achten. Du kannst dich auf ihn verlassen. Nun
leb wohl, Kind des
Großen Schmieds. Möge auch er ein oder zwei Augen auf
dich werfen. Dies ist
deine Gelegenheit durch das Tor zu schreiten, also nutze
sie gut, Camy.“
Mit diesen Worten verschwand sie. Und hätte Camy nicht
die Rune in ihrer
Hand gehalten, hätte sie gedacht sie hätte das alles nur
geträumt. Sie wunderte
sich über das eben erlebte, doch nun drängte die Zeit:
sie hatte auf Reisen noch
genug Gelegenheit darüber nachzudenken.
Also packte sie die Pfeife in den Tabaksbeutel und hängte
ihn sich an den
Gürtel. Dann nahm sie ihre kläglichen Einnahmen vom
Vortag und tat sie in den
Geldbeutel, den sie von den unbekannten Zwerginnen geschenkt
bekommen
hatte. Rasch lief sie nach oben, zog ihren Umhang an,
schulterten ihren
Rucksack und die Umhängetasche mit ihrem Werkzeug und
nach einem letzten
Kontrollgang durch ihr zu Hause machte sie sich auf den
Weg. ‚Auf
Wiedersehen. Ich hoffe, ich bleibe nicht zu lange fort.‘ dachte sie, als sie die
Haustür abschloss. Dann fiel ihr ein, dass sie ja den
Schmiedehammer in der
Küche vergessen hatte.
Eilig drehte sie erneut den Schlüssel im Schloss, hastete
in die Küche und
hängte sich den Hammer um. Als ihr Blick auf das
rotkarierte Geschirrtuch fiel,
grinse sie breit und nahm es mit.
Schwer bepackt traf sie schließlich am Marktplatz ein,
doch Wulfgast war noch
nicht dort eingetroffen. Als sie ihn von Weitem kommen
sah, winkte sie ihm mit
dem Geschirrtuch: „Na endlich, da bist du ja! Und hier
ist auch mein
Schmusetuch.“
***
geschrieben von Rina Smaragdauge, bearbeitet von Razial
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